Frisch auf den Tisch | | Frühjahr 2013: |
Mannheim . Ein Frühlingsmärchen
"Das nachstehende Märchen geschrieben im diesjährigen Monat März zu Mannheim …"Es war einmal ein wunderschöner Garten. Dort sang des Nachts zwischen den Zweigen alter Magnolienbäume die Nachtigall. Am Morgen aber sandte die Lerche ihr Lied unter die bleichen Flaneure, die hier mitunter auf den Bänken ruhten und in die Sonne blinzelten. So gingen die Jahre ins Land. Es wurde Frühling, Sommer und Winter. Auf die Wintersonne folgte der Frühling mit linden Lüften und dem kostbaren Duft der herrlichen alten Magnolien.

Eines Tages, als die Nachtigall wieder einmal ihr Lied an die Nacht trillerte, durchwehte den Garten ein Stöhnen. Der kleine Vogel erschrak so sehr, dass er augenblicklich verstummte. Er lauschte ängstlich in die Dunkelheit und – erstarrte. Unter der Rinde der Magnolie zitterte es. Ein Beben durchlief Stamm und Äste … als der Bagger seine stählernen Zähne in das Holz schlug und die Wurzeln aus dem Boden riss!
"Hast du schlecht geträumt?" fragte die Nachtigall.
"Mir träumte, ein ehern Ungeheuer würde mich in Stücke reißen!" ächzte die Magnolie.
"Unsinn!" erwiderte die Nachtigall. "Du bist beinahe so alt wie dieser Garten. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Das war im Jahr 1913. Niemand wird es wagen, nach mehr als 100 Jahren diesen wunderschönen Ort zu zerstören!"
Aber es geschah dennoch. Anfang Februar, nach 100 Jahren wurde die schöne Jugendstilanlage mitsamt Sandsteinbalustrade, -Vasen und epochaler Gartenanlage: zwei zwillingsgleichen Magnolien, einem 20 Meter hohen Silberahorn, knorrigen Hängezypressen, Flieder und Hecken vernichtet.

Wie geht das Märchen nun weiter?
Das ist schnell erzählt. Die internationale Organisation der Gartenphilosophen (IOP), die sich für ihr Frühlingssymposium 2013 diesen geschichtsträchtigen Ort auserwählt hatten, reisten ahnungslos aus Athen, Byzanz, Alexandria, Kyoto, Peking, Timbuktu und Angkor an. Und was fanden sie vor? Eine Barbarei beispiellosen Frevels an Flora und Fauna. Fäuste, Flüche hitziger Jungphilosophen flogen gen Himmel. Ewige Rache wurde geschworen. - Doch schließlich siegte die Einsicht. Als aber auch das Ausweichquartier, der Innenhof des Amtsgerichtes in A2, einen grausamen Anblick gefällter Anmut bot, da auch hier eine dringend erforderliche städtebauliche Maßnahme am Gartenidyll die Axt angelegt hatte, flohen die die Schönheit und Weisheit Liebenden den ruchlosen Ort.

Verließen fluchtartig die Stadt, die Kurfürst Karl Theodor vor ca. 250 Jahren als Residenz der Kunst und Kultur europaweit bekannt gemacht hatte. Verlegten nach heftigem Disput ihr Symposium auf die Pfaueninsel, die "Perle im Havelmeer". Hier genießen altehrwürdige Bäume Artenschutz. Herrschte das Rousseausche Denken. Die schöngeistige Weltelite floh also nach Berlin. Nicht jedoch, ohne Mannheim zuvor einstimmig den Titel "Stadt der planetarischen Gartenparadiese" aberkannt zu haben.
Die Nachtigall aber, nun wohnungslos, suchte sich traurig anderswo Asyl. So war es nicht verwunderlich, dass auch der Frühling diesen Ort mied und hier für immer der Winter hauste.